WAS IST DER UNTERSCHIED ZWISCHEN VERDRÄNGEN UND DAS IN DER MEDITATION PRAKTIZIERTE LOSLASSEN VON GEDANKEN UND GEFÜHLEN?

Verdrängen kommt vom Wortstamm “drängen”. Es gibt zurückdrängen, abdrängen, wegdrängen, vordrängen, etc. All diese Verben drücken einen Drang aus, da ist echter innerer Druck vorhanden. Verdrängung, Verschiebung oder Verleugnung sind psychologische Abwehrmechanismen, die das Ziel haben, psychische oder seelische Inhalte in das Unterbewusstsein zu verschieben, wo sie nicht mehr bewusst erlebt werden können. Diese Mechanismen finden statt, da bestimmte Ereignisse und Erfahrungen in einer bestimmten Situation einen Menschen überfordern und deren Anforderungen er nicht mehr standhalten kann. Eine solche Situation, in der psychische Inhalte verdrängt werden, kann manches Mal notwendig sein, da die innere oder äußere Not gerade zu groß ist, um ihr standhalten zu können.

Psychische Verdrängung bezeichnet eine aktive, kompensatorische Handlung oder Aktion des Menschen, um ein Ziel zu erreichen. Verdrängen bedeutet, dass ein Mensch sich aktiv einsetzt, um etwas nicht zu sehen, nicht zu empfinden, nicht zu fühlen und auch nicht zu erkennen, indem er sich mit einer ganz anderen Sache beschäftigt, die mit dem Thema, das verdrängt wird, nichts zu tun hat. So wird ein Mensch nicht still – wie in der Meditation, sondern aktiv wendet sich der Mensch vom Eigentlichen ab und neigt sich einem Ersatzthema oder einer Ersatzhandlung zu. Der Geist ist also für ein bestimmtes Thema nicht offen, sondern will sich partout nicht mit diesem Thema beschäftigen, sondern schiebt es weg und wendet sich etwas ganz anderem zu. Oftmals ist es etwas, bei dem Körper und Geist besonders beschäftigt sind. Das kann bei der Arbeit sein oder diese Person kommt mit anderen Menschen in einer Weise zusammen, so dass keine Stille im Geist entstehen kann, in der das eigentliche Thema, das verdrängt werden muss, zum Vorschein kommen könnte.

Verdrängte, geistig-seelische Inhalte haben allerdings die Tendenz, immer wieder an die Oberfläche des Bewusstsein aufzuschwemmen. Gerade in schwierigen Lebenssituationen und Krisen wie schwerer Krankheit, Trennung und Scheidung, Todesfällen von Angehörigen und ähnlichen schwierigen Lebenslagen drängt ein abgespaltenes Gefühl oder eine traumatische Erinnerung oftmals wieder in das Bewusstsein und sucht sich Raum und Gehör zu verschaffen. Auch taucht in Träumen oft Verdrängtes auf, weil die Kontroll- und Abwehrmechanismen während des Schlafens geringer sind. Gewisse diffuse Ängste vor unklaren Lebenssituationen, die eigentlich bei sachlicher Betrachtungsweise zu beherrschen wären, beruhen oftmals auf abgespaltenen, verdrängten Lebenserfahrungen und beiseitegeschobenen Situationen aus der eigenen Vergangenheit, z. B. aus der Kindheit.

In der Meditation jedoch einen Gedanken oder ein Gefühl wahrhaft loszulassen, fußt auf einem anderen Verständnis. Der Geist ist – wenn Meditation richtig verstanden wird – absolut offen und klar, hat keine Vorlieben und Abneigungen, zieht nichts an geistigen Aktivitäten heran oder wehrt sich dagegen. In diesem offenen, weiten, inneren geistigen Himmel taucht ein Thema als Gedanke, Bild, Gefühl oder Empfindung auf. Das kann als angenehm oder auch als unangenehm erlebt werden. Oftmals ist diese Wahrnehmung auch neutral, ohne Bewertung. Der klare Geist, der entspannt und frisch zu sehen vermag, nimmt also alles wahr, das in diesem Geist von Moment zu Moment auftaucht.

Wichtig ist zu verstehen, dass in der Meditation der subjektive Geist nicht ein gedankliches oder emotionales Objekt wahrnimmt, das unabhängig vom wahrnehmenden Bewusstsein existiert. Es gibt somit keine Dualität zwischen wahrnehmenden Subjekt und erlebten Objekt. Diese Dualität besteht vielmehr in unseren Wahrnehmungen, die sich auf die Außenwelt richten. In stiller Meditation jedoch existiert eine untrennbare Einheit zwischen dem, das wahrnimmt, also dem achtsamen, klarsehenden Geist, und dem Objekt, das wahrgenommen wird, z.B. einem Gedanken. Auch dieses gedankliche Objekt befindet sich ebenso in unserem Geist, wie ein Bild oder ein Gefühl. Alles, der Prozess des Wahrnehmens als auch das wahrgenommene Objekt findet im selben Geist statt. Es gibt hier nur eine Einheit, keine Dualität.

So ist ein ungetrübter, offener Geist befähigt, einerseits innerlich zur Ruhe zu kommen, andererseits ist er in der Lage, sich auf ein Meditationsobjekt zu konzentrieren und sich zu sammeln. Tauchen beim Meditieren Bilder, Gedanken und derlei Aktivitäten im Geist auf, werden diese erkannt und wahrgenommen. Es ist nicht so entscheidend, wie lange wir in der Meditation brauchen, um einen noch im Unbewussten oder im Vorbewussten verharrenden Gedanken oder ein anderes geistige Objekt in uns zu erkennen und zu sehen. Wird einmal eine Information aus dem Unbewussten in unserem bewussten Sein in dieser Weise achtsam und klar wahrgenommen, schenkt sie uns eine Klarheit, hinter die wir nicht mehr zurück können.

So ist es, wenn wir mit offenen Augen in der Dunkelheit ein Licht kurz aufleuchten sehen. Hier können wir nicht so tun, als wenn da kein Licht gewesen wäre.  So verhält sich jemand, der verdrängt oder Tatsachen verleugnet. Beim Meditieren jedoch erfassen wir manchmal etwas, das wir vielleicht bisher noch nie so gesehen haben. Wir bekommen eine neue Erkenntnis und Einsicht. Diese kann ganz plötzlich entstehen oder braucht manchmal auch etwas an Vorbereitung, bis sich die geistige Klarheit zu diesem klaren Sehen gewandelt hat. Wenn wir jedoch einen neuen Einblick oder eine andere Sichtweise oder auch nur einen einzelnen Gedanken klar gesehen und wahrgenommen haben, ist nichts von dem vorhanden, was auf Verdrängen oder geistigem Wegschieben beruht. In achtsamer Stille und Offenheit im Geist taucht das auf, zu dem der Mensch bereit und reif ist.

Jetzt kommt ein zweites ins Spiel. Nämlich das Loslassen all dessen, das in unserem Geist als Empfindung oder als Bild und dergleichen aufgestiegen ist. Hier zeigt sich die tiefe Weisheit, die der Buddha gelehrt und all seine Schüler/innen bei der Meditation anwenden. Es gilt zu verstehen, dass der Geist des Menschen nicht einen Kern oder eine feste Substanz besitzt, wie eine Struktur oder eine Farbe oder sonst irgendwie aus etwas Materiellem besteht, sondern vielmehr transzendent, weit, offen, unbegrenzt und grenzenlos ist. Der Geist entspricht in keinster Weise dem, wie die materielle Welt gebaut ist und wie sie funktioniert. Selbst wenn der menschliche Geist ein Gehirn zum Wirksam-werden voraussetzt, ist er jedoch nicht mit dem Gehirn gleichzusetzten. Gleichermaßen verhält es sich zum Beispiel mit den Buchstaben im Buch oder in der Zeitung. So wie das Gehirn für den alles umfassenden Geist eine Basis im menschlichen Körper bildet, sind die Buchstaben auf dem Papier die materielle Grundlage, ohne die eine Information, um die es doch geht, nicht übermittelt werden kann.

Damit nun tiefgründige Weisheit in der Meditation zum Tragen kommen kann, ist es wichtig, all diese Gedanken, Bilder, Empfindungen und Gefühle, also die geistigen Aktivitäten, nicht im geistigen Raum zu konservieren oder festzuhalten und daran anzuhaften. Es geht nicht darum, sich mit inneren Bildern und gedanklichen Konzepten zu identifizieren, sondern sie immer wieder loszulassen und weiterziehen zu lassen, so wie Wolken am Himmel nicht über einem Ort verbleiben, sondern unaufhörlich weiter reisen und irgendwann sich auch auflösen. Das geistige Sich-Sammeln auf den Atem ist demnach nur das methodische Mittel, vor allem in der Samatha- aber auch in der Vipassana-Meditation, um Gedanken und Bilder und anderes immer wieder loslassen zu können.

Wir lassen somit alle geistigen und emotionalen Aktivitäten los, durch das bewusste und achtsame Zurückkommen auf den gelassenen und zugelassenen Atem. Gedanken und sonstige, innere geistige Aktivitäten dürfen kommen, für einen Moment da sein, um flugs darauf wieder zu verschwinden und durch andere Aktivitäten abgelöst zu werden. Es geschieht ein Kommen und Gehen, ein Weiterreisen und immer wieder Loslassen. Nichts, das innerlich im Geiste geschieht, halten wir in der Meditation fest. Auch im Atmen erfahren wir eine permanente Wandlung vom Einatmen zum Ausatmen, und nach der Phase der Atemruhe   beginnt wieder der nächste Einatem. Wer würde wohl auf Dauer den Atem anhalten wollen und können?

Es ist, als wenn es an der Wohnungstür klopft. Wir öffnen die Tür, begrüßen die vor der Tür stehende Person mit einem freundlichen „Guten Tag“, dem unmittelbar danach schon ein „Auf Wiedersehen“ oder „Good Bye“ sich anschließt. Gleich darauf schließen wir auch die Tür. Sollte sich das Anklopfen wiederholen, verfahren wir in der genannten Weise, absolut freundlich und doch sehr bestimmt, bis niemand und nichts mehr anklopft. In dieser Weise geschieht bewusstes, achtsames Sehen der geistig-seelischen Bewusstseinsinhalte unseres Geistes und auch das Loslassen dessen, was der Geist gerade beinhaltet.

Wir verstehen immer deutlicher, dass der Geist ein Raum ist, in dem Geschehnisse, wie zum Beispiel Gedanken oder Gefühle, stattfinden können, die aber nicht statisch sind und unveränderlich, sondern immerfort im Fluss sind, ständig in Inhalt und Intensität sich verändern und sich andauernd auflösen und neuen Bildern, Gefühlen und Gedanken Platz machen. So wie die Wasser eines Flusses immer weiter fließen und nicht an einem Ort verharren und festhängen, so fließen alle inneren Kräfte unaufhörlich weiter und verändern sich und sind in der Lage, sich auch als Bilder, Gedanken und Gefühle in ihrer jeweiligen Ausgestaltung schließlich aufzulösen. Sind wir hierzu in der Lage, geistige Inhalte loszulassen, sind wir auch kreativ und schöpferisch in unserem Leben unterwegs. Können wir dies nicht, hängen wir irgendwann in unserem Leben fest und wir werden von Kummer und Leid mehr oder weniger bestimmt. Ich verweise hier auf das Gedicht “Stufen” von Hermann Hesse.

Es geht also beim Meditieren darum, in der Lage zu sein, sich immer wieder zu ent-identifizieren, immer wieder Identifikationen aufzulösen. In unserem Alltag jedoch, wie auch im beruflichen Leben gilt es, sich mit seiner Tätigkeit zu identifizieren, sie so gut wie möglich durchzuführen. Im alltäglichen Leben sind wir im Kontakt mit unseren Kindern in der Rolle eines Vaters oder einer Mutter. In der Unterrichtssituation sind wir Lehrer/in, in der medizinischen Praxis Arzt oder Ärztin, usw. In all diesen Situationen ist es notwendig und auch bis zu einem gewissen Maß sinnvoll, sich mit der Tätigkeit zu identifizieren. Aber wenn der Lehrer, die Lehrerin, der Arzt, die Ärztin nicht mehr im Dienst sich befinden, keine kranke Person mehr Hilfe bedarf, so ist es auch nicht mehr notwendig, als medizinisch tätige Person mit dem beruflichen Rollenverständnis und einem entsprechenden gedanklichen und seelischen Ego zuhause gegenüber der eigenen Familie aufzutreten. Hier ist diese Frau nicht mehr als Ärztin unterwegs, sondern tritt als Partnerin oder Mutter oder Tochter auf. Und dieses Rollenverständnis schwindet denn auch wieder im Umgang mit anderen Menschen wie den Nachbarn oder Freunden oder in einer ganz anderen Lebenssituation. Es braucht also flexible, anpassungsfähige, innere Fähigkeiten, die auf einer tieferen Auffassungsgabe und erhellenden Klarsicht beruhen, immer wieder seine Rollen und Konzepte loslassen zu können und sich für den Augenblick, für den gegenwärtigen Moment zu öffnen. Denn die Vergangenheit ist vergangen und die Zukunft ist noch nicht da. Was wirklich jetzt zählt, ist der gegenwärtige Moment. Mehr und mehr erkennt das meditierende Individuum, was es bedeutet, wenn über das vermeintliche Ego des Menschen gesprochen wird sowie was mit der Egolosigkeit des Menschen gemeint ist.

Sowohl in der Meditation als auch im bewussten, achtsamen Leben gilt es, Vertrautes, Gewohntes, Bekanntes loszulassen, an nichts “wie an einer Heimat (zu) hängen”, sondern von Neuem bereit zu sein “zu Aufbruch und Reise”. Der oder die von Weisheit bestimmte Meditierende ist hierzu eher in der Lage. In seiner Meditation wird diese Gelassenheit, das Loslassen, von Moment zu Moment, von Augenblick zu Augenblick praktiziert und eingeübt. Der Mensch, der von Verdrängen, Wegschieben und Leugnen bestimmt ist, der sich nicht seiner inneren Wahrheit zu stellen vermag, besitzt sehr wahrscheinlich nicht diese innere Fähigkeit, loszulassen, Abschied zu nehmen und dabei zu gesunden.

Während der meditierende Mensch versucht, sich seinem Leben in all seiner Gänze bewusst zu stellen, auch das Schwierige dabei zu sehen und zu akzeptieren, um sich klug und weise alsdann neu zu orientieren, vermag eine törichte, sich unklug verhaltende Person dies nicht. Vielmehr leugnet sie bestimmte Zusammenhänge und Situationen, sie verdrängt und verbannt all das, was unangenehm und schmerzhaft ist und stellt sich nicht den Tatsachen ihres Lebens. Da sie die Gegenwart leugnet, ist sie auch nicht in der Lage, frei die Zukunft, anders als bisher gewohnt, frei und neu zu gestalten.

Klaus Eitel