An einem Sonntagmorgen im Advent.
Es ist kurz nach 8 Uhr an einem Sonntagmorgen in der Adventszeit. Eine kleine Gruppe von Menschen hat sich in dem hohen, Licht durchfluteten Raum der Atempraxis in Clausen in der Südwestpfalz eingefunden. Fünf Musiker und Musikerinnen packen ihre Blasinstrumente aus, Sopran- und Altflöte, Tenor- und Bassflöte. Kleinere und größere Flöten, helle und dunkle werden in die Hände genommen. Die Bläser/innen stellen sich in einer Reihe auf. Auf ein Zeichen von Sonja, der Leiterin, erklingen die ersten Töne der ‚Pastorale‘ aus der ‚Hirtenmusik zur Weihnacht‘. Voller Aufmerksamkeit lauschen die wenigen Zuhörer dieser Musik und lassen sich von ihr berühren und einstimmen.
Können Atemübungen den Klang eines Blasorchesters verbessern?
Es ist der Beginn eines kleinen Experimentes, das Aufschluss darüber geben soll, in wieweit Atemübungen die Klang- und Tonqualität dieses kleinen Flötenkreises verbessern können. Hat eine Abfolge von gezielt durchgeführten Atem- und Leibübungen, unter Anleitung eines erfahrenen Atemlehrers, Auswirkungen auf den Klangkörper dieses Blasorchesters?
Dehnen und Bewegen – Tönen und Lauschen
Über dreieinhalb Stunden lassen sich die fünf Musiker/innen auf Übungen ein, in denen sie ihren Körper in unterschiedlicher Weise achtsam bewegen und dehnen, sowie empfindsam ihrem Atem und seinen muskulären Bewegungen nachlauschen. Mal sind die Atemübungen, bei denen Kopf und Rumpf, Arme und Hände, Beine und Füße einfühlsam und bewusst bewegt werden, voller Dynamik und Bewegung, mal geht es ganz empfindsam und ruhig zu. Irgendwann an diesem Morgen – nach einer kleinen Teepause – werden auch Vokale getönt. Im Rhythmus bestimmter Bewegungsübungen erklingen ausatmend Vokale, die entweder kurz und prägnant angestoßen werden, oder langsam bis zum Verstreichen des Ausatems verstummen. An jede Atemübung schließt sich immer wieder ein inneres Nachlauschen an, auf den Atem, seinen Rhythmus, seine muskulären Bewegungen, seine Tiefe: ein Hinspüren und Nachschwingen, ohne Machen, ohne Forderung!
Was bewirkt lebendiger, zugelassener Atem?
Was hat sich getan? – Was hat diese gerade durchgeführte Leibübung für das eigene Atmen bewirkt? – Hat es sich verändert? – Wie empfinde ich jetzt die innere Atembewegung, die unaufhörlich im Rhythmus des Ein- und Ausatmens den eigenen Körper durchschwingt. – Ist das Atmen tiefer geworden, ruhiger, langsamer? – Wie empfinde ich jetzt mich selbst. – Habe ich mich vielleicht verändert? – Diese und andere Fragen, die vom Atemlehrer im Anschluss an eine Übung gestellt werden, sollen die Übenden anleiten, beharrlich und gründlich hinzuhören und nach innen zu lauschen, was dieser lebendige Atem in ihnen bewirkt.
Lebendiger Atem verändert Musik
Zur Mittagszeit packen die Musiker/innen wieder ihre Instrumente aus. Erneut erklingt die ‚Pastorale‘. Gesammelt und voller Aufmerksamkeit spielen die Musiker dieses Stück. Konzentriert lauscht die kleine Schar der Zuhörer dieser Weihnachtsmusik und lässt sich von der Freude, die die Musik ausstrahlt, im Innersten des eigenen Herzens berühren. Es ist ähnlich wie Stunden zuvor – und doch etwas anders. Im Klang, in der Art und Weise, wie die Musik beim Zuhörer ankommt. Wie sie dessen Ohr erreicht und ihn berührt. Es steckt mehr Volumen, mehr Kraft dahinter. Die Musik ist stärker, beeindruckender und wirkt anders auf den Zuhörer ein. Das Ergebnis ist eindeutig. Musiker wie Zuhörer erleben es in dieser Weise. Darin stimmen alle Anwesenden überein, es besteht kein Zweifel. Der durch Atem- und Leibübungen lebendiger gewordene Atem hat auch die Musik verändert. Hat sie satter gemacht, reicher, intensiver.
Töne wie Menschen brauchen Raum und Tiefe
Dieses kleine Experiment zeigt, dass die Qualität einer Musik mit Blasinstrumenten nicht einfach nur von der technischen Perfektion abhängt. Davon, wie die Musiker mit ihren Instrumenten umzugehen in der Lage sind. Es kommt auch auf die Qualität des Atems an, der jedem Ton zugrunde liegt. Musik, von menschlichem Atem gebildet und geformt, braucht Kraft und Raum sowie Tiefe. Sie lebt davon, dass auch im Menschen, der den Ton erzeugt, ebenso Raum und Tiefe vorhanden ist. Fehlt diese, fehlt sie auch der Musik.
Durchlässigkeit und Atemräume sind Voraussetzungen für menschliche Tiefe und Kraft in Sprache und Ton
Als Atemlehrer der Methode des Erfahrbaren Atems nach Professorin Ilse Middendorf hatte ich kein anderes Ergebnis erwartet. Es ist eine gesicherte Erfahrung, dass die Kraft, mit der ein Mensch sich äußern und ausdrücken kann, auch wesentlich von der Lebendigkeit seines zugelassenen Atmens bestimmt wird. Sowohl das Singen eines Liedes, das Blasen in ein Musikinstrument als auch das Sprechen eines Wortes, eines Textes hängt in seiner Ausdruckskraft von der Art und Weise ab, wie natürlich und frei, wie lebendig und zulassend Atmen geschieht. Der Klang einer Flöte hängt nachhaltig von der Kraft und der Fülle des Atems ab. Dieses Experiment lässt sich auch auf den Gesang übertragen. Gerade der Gesang lebt vom Atem, von dessen Qualität, Tiefe und der Fähigkeit des Menschen, Atemräume bilden zu können, weil der Körper durchlässig geworden ist.
Die Kräfte des „Ich’s“ versus die Kräfte des „Wesens“
Viele Menschen unserer schnelllebigen Zeit halten unter Druck oft die Luft an. Sie haben einen zu kurzen Atem, geraten schnell in Atemnot, atmen zu hektisch oder sind unruhig und wenig gelassen. Das Zwerchfell, das als zentraler Atemmuskel die Atmung bewirkt, ist bei vielen Zeitgenossen blockiert und in seinen Bewegungen gehemmt, so dass die Kraft des Ausatmens darunter leidet. In den 20 Jahren Berufstätigkeit als Atemtherapeut hatte ich immer wieder mit Menschen zu tun, die als Mitglieder verschiedener Chöre sich dem Singen verschrieben hatten. Bei näherem Hinsehen stellte ich jedoch fest, dass der Atem bei manchen dieser Sängerinnen und Sänger nicht frei, sondern oftmals in den Brustkorb hochgezogen war. So mancher Brustkorb war aufgestellt oder überbläht und das Zwerchfell konnte sich nicht frei bewegen. Kräfte des „Ich“ hatten sich im Laufe deren Lebens durch vielfältigste Ursachen stärker herausgebildet, als die Kräfte des „Wesens“ – um mit Graf Dürkheim zu sprechen, – so dass die Wesenskräfte im Defizit und in der Schwäche verblieben waren.
Das paradoxe Atmen
Ein besonderes Problem unserer hektischen, von Stress geprägten Zeit stellt das paradoxe Atmen dar. Bei dieser unnatürlichen Atemweise verhält sich die muskuläre Atembewegung paradox, das heißt gegensätzlich zu dem Ein- und Ausströmen der Luft. Luftstrom und Atembewegung fließen nicht parallel zu einander, sondern verlaufen gegenläufig. Der Atem liefert nicht in natürlicher Weise die Luft zum Leben, sondern eher willentlich wird diese eingesaugt. Desweiteren wird dabei das Entfalten der Kraft beim Ausatmen blockiert. So, als wenn jemand mit angezogener Handbremse Auto fährt.
Der getriebene Menschen ohne Ruhe in Atem und Leben
Wieder andere Menschen finden im Atmen keine Ruhe. Unaufhörlich geschieht Ein- und Ausatmen, ohne Ruhe, ohne Pause nach dem Ausatmen. Der natürliche Rhythmus des Atmens in Ruhe ist nachhaltig gestört. Sowohl der Atem ist getrieben als auch die unruhigen Zeitgenossen. Sie finden im eigenen Inneren beim Atmen keine Ruhe mehr, sondern unablässig treibt Atem wie Leben sie vorwärts. Wie sollen hier Kraft und Stärke im Ausdruck durch die Stimme oder den Ton entstehen, wenn der atmende Mensch nicht bei sich sein kann, sich nicht auf Atemruhe und innere Freiheit einlassen kann?
Ausatem als Ausdruck der eigenen inneren Befindlichkeit
Atmend zeigt sich der Mensch und lässt uns die Qualität seines inneren Lebens erahnen. Durch jeden Ausatem drückt der Mensch sein Innerstes aus. Gesang und Melodie, Ton und Klang einer Stimme bringen dieses innere Lebendig-Sein oder auch seinen Mangel zum Ausdruck. Der Atem ist quasi der Fluss, auf dem Klang und Ton zum Hörenden getragen werden. Je nachdem wie schwach oder kraftvoll Atem fließt, entsprechend ist auch das Vermögen beschaffen, mit der Klang und Ton, Ausdruck und Lebendigkeit in die Welt gegeben werden.
Bewusstes, gelassenes Atmen setzt uns in lebendigen Bezug zu dieser Welt
Als Atemlehrer wünsche ich mir, dass Menschen zunehmend erkennen, wie wichtig das gelassene, freie Atmen für ihr körperliches und seelisches Wohlbefinden ist. Auch die Musiker und die Sänger. Atmen ist weitaus mehr als nur Gasaustausch, bei dem Sauerstoff und Kohlensäure ausgewechselt werden. Bewusstes Zulassen des Atems bedeutet, sich mit der Welt in Bezug zu setzen: einerseits sie in sich aufzunehmen und ihre Anregungen und Forderungen kreativ umzusetzen. Andererseits stellt bewusstes Ausatmen immer wieder die Aufgabe, sich auf die Welt einzulassen und sich ihr hinzugeben oder sie zu gestalten. Unter anderem durch seine Stimme, durch Ton und Gesang – die einen eher verkrampft, gepresst und durch unsichtbare Lasten beschwert, andere wiederum mehr natürlich, ungekünstelt und innerlich frei.
Fotoquelle: Klaus Eitel