WAS HAT ATEMTHERAPEUTISCHE ARBEIT MIT LERNEN ZU TUN?

Der Atem ist die wichtigste Funktion für den menschlichen Körper.

Schon die Römer wußten, daß ein gesunder Körper die beste Voraussetzung für einen wachen, aufnahmefähigen Geist bietet. Eine unentbehrliche Brücke zwischen Körper und Geist bildet der Atem, der diese beiden Aspekte des menschlichen Daseins miteinander verbindet. Der Atem ist die wichtigste aller vegetativen Funktionen des Menschen. Ohne zu atmen ist menschliches Leben nicht möglich. Mit dem Atem beginnt und endet unser Leben als eigenständiges Wesen.

Atmen ist weitaus mehr als nur Gasaustausch.

Die Art und Weise wie ein Mensch atmet, hat erhebliche Bedeutung für sein gesamtes existentielles Leben. Atmen ist nicht nur ein Anfüllen der Lungen mit Luft und Versorgen des Organismus mit lebenswichtigem Sauerstoff sowie dem Abtransport von Kohlendioxyd und schädigenden Schlackenstoffen, sondern gleichzeitig drücken wir Menschen uns als individuelle Wesen in ihm aus. Sämtliche inneren als auch äußeren Vorgänge und Prozesse unseres Lebens zeigen sich im Atem. Vor Angst halten Menschen die Luft an und der Atem stockt bei Erschrecken, Kummer schnürt die Brust ein und das Atmen geht nur schwer, während Freude und Glück uns befreit durchatmen und tiefer atmen lassen. Der Atem spiegelt als ein feiner Seismograph unser Leben wider.

Zwischen Atem- und Lebensweise gibt es Entsprechungen.

Umgekehrt gilt aber auch, daß so, wie wir als Menschen atmen, wir auch in entsprechender Weise unser Leben führen. Wird die Luft z.B. hektisch und mit ungeduldigem, schnellen Rhythmus in die Lungen eingesogen, so wird sich für diesen Menschen auch in seinem Leben wenig Ruhe und Gelassenheit gegenüber den Herausforderungen des Alltages und seiner Bewältigung finden. Hektisch, ohne Pause und Rhythmus in Sprache und Gestik, mit vielleicht eckigen, ungelenkigen Bewegungen, fast immer in Eile wird ein solcher Mensch von innerer Unruhe verzehrt. Schwierigkeiten und Probleme im Leben sind oft die Folge eines solchen Mangels an innerer Ruhe und einer gelassenen Herangehensweise an die täglichen Notwendigkeiten.

Freies Atmen bedeutet offen zu sein.

Wir vermögen jedoch über die Atemarbeit, über das Arbeiten mit dem Erfahrbaren Atem, auf unser Leben sowie auf Situationen und Prozesse des Lebens und die Art, wie wir mit ihnen umgehen einzuwirken. In diesem Fall holen wir nicht den Atem, wie dies in unserer leistungsorientierten Lebensweise heute leider sehr verbreitet ist, sondern durch beharrliches und ausdauerndes Arbeiten am Atem lernen wir, innerlich ganz offen für den Atem zu sein, so daß die Atemluft frei und ohne inneres Einziehen in uns einströmen kann. Wir lassen den Atem kommen und sind in der Lage, uns von ihm durch und durch erfüllen und weit werden zu lassen. Ganz geöffnet für diese lebendig in uns einströmende Kraft erleben wir, wie diese dann im Ausatmen auch wieder vollständig von uns fließt, – ohne verzögerndes Bedauern, ohne den Atem irgendwie zurückzuhalten. Frei lassen wir den Atem von uns gehen und erwarten leergeworden in innerer Stille wieder das Einströmen und Aufblühen eines neuen kraftvollen Einatems.

Natürliches, freies Atmen hilt uns, entspannt zu sein.

Durch solches ‘natürliches Atmen’ wird die Art und Weise, wie wir atmen, uns deutlicher bewußt. Übend und atmend werden wir im Laufe der Zeit uns selber und unseres Lebens bewußt. ‘Rechtes Atmen’ verhilft uns, den Interessen und Anforderungen, die privates und berufliches Leben mit sich bringen, gelassener und entspannter gegenüber zu treten. Wir vermögen die Themen- und Interessengebiete unseres Lebens kraftvoll ausfüllen zu lernen, sowie unseren Verpflichtungen verantwortungsvoll zu genügen.

Natürliches und freies Atmen hilt uns, unsere Begabungen zu entfalten.

‘Natürliches Atmen’ weckt schöpferische, kreative Kräfte und schafft dabei gleichzeitig den nötigen Raum, in dem sich die neu aus unserem Innern erweckten Fähigkeiten voll entfalten können. Je nach Veranlagung und Potential mögen der einen Person bei entsprechender, beharrlicher Übung mit dem Erfahrbaren Atem künstlerische Fähigkeiten aus dem eigenen Innern entwachsen. Eine andere Person entwickelt aus dem zuvor in ihr still schlummernden Potential die Begabung, mit anderen in fruchtbare und sinnvolle Kommunikation einzutreten. Jemand anderes wiederum setzt durch ‘rechtes Atmen’ Beharrungsvermögen und Ausdauer frei, die in kognitiven, emotionalen und sonstigen Lernprozessen, gemäß den Interessen des Atemübenden ihre Ausrichtung finden.

Krisen müssen durchgearbeitet werden.

”Natürliches” und freies Atmen leitet Wachstums- und Reifungsprozesse ein, die sich in unterschiedlichster Weise im Alltag niederschlagen. Aber wie bei allen Wachstums- und Reifungsprozessen löst die Arbeit mit dem Erfahrbaren Atem auch Krisen aus, die durchlebt und durchgearbeitet werden müssen. In seiner ursprünglichen Bedeutung meint das Wort ‘Krise’ im Griechischen eine ENTSCHEIDUNG oder auch den WENDEPUNKT EINER ENTWICKLUNG. Durch Atemarbeit werden Atem- und Lebensprozesse zur Entscheidung gestellt, da eine andere, bewußtere und heilende Art des Atmens langsam in einem Atemübenden heranreift. In der Krise schließt eine bestimmte, aus der Vergangenheit entstandene Entwicklung ab und wendet sich Neuem, jetzt reif Gewordenen zu. Ohne die Krise ist die Wandlung zu einem gelösten und freien Atmen und damit zu einem innerlich freien Dasein meines Erachtens nicht möglich. Echte Atemarbeit setzt die Bereitschaft zum Durcharbeiten eigener innerer Prozesse voraus.

Der natürliche Atem ist ein ‘Leitseil’, das alle Dimensionen des Menschen umfasst.

Eine Person, die frei von unbewußt wirkenden, willkürlichen Atemmustern in einer optimalen und gelassenen Weise atmet, besitzt die Fähigkeit, die Atembewegungen spürbar und empfindsam wahrzunehmen. Atembewegungen sind muskuläre Bewegungen, die durch das Ein- und Ausatmen im Körper entstehen. Indem Übende lernen, sich immer tiefergehend über den Atem wahrzunehmen, entwickelt sich ihr wahres menschliches Wesen, das oft hinter der Maske innerer Blockierungen und verschleiernd wirkender Strukturen verborgen liegt. Verspannte oder unterspannte Muskeln, die sich in negativer Weise auf gedankliche und gefühlsmäßige Abläufe im Menschen auswirken, werden durch eine gelassene und zulassende Atemweise zum Eutonus hin, zur optimalen Spannung der Muskulatur, verändert. Der Atem ist quasi ein ‘Leitseil’, das alle Ebenen des menschlichen Daseins umfaßt und miteinander verbindet. über dieses Leitseil des Atems kann wiederum der Mensch auf allen Ebenen und Schichten spürsam angesprochen und erreicht werden.

Der natürliche Atem schafft die leiblichen Grundlagen für ungehindertes Lernen.

‘Natürliches oder auch rechtes Atmen’ schafft die leiblichen Grundlagen, indem es Körper, Seele und Geist umschließt und sie durchlässig werden läßt, so daß innerliche Prozesse und Vorgänge nicht gehemmt und behindert werden, sondern frei fließen können. Lernvorgänge können um so besser vonstatten gehen, je weniger eine lernende Person in ihrem Zugang zur Lernmotivation und zu ihren innewohnenden Fähigkeiten abgeschnitten und blockiert ist. Befindet sich ein Lernender in der Lage, seine lebendigen Atemkräfte und Energien in optimaler Weise fließen zu lassen, dann entsteht auf natürliche Weise Gesundheit und Wohlergehen. Ein solcher Mensch vermag seine ihm zur Verfügung stehenden Kräfte auf Ziele auszurichten, als auch die zur Erreichung dieser Ziele notwendigen Aktivitäten und Anstrengungen selbst aufzubringen.

Innere Blockaden behindern und hemmen oftmals die Lernfähigkeit.

Nach meinem Eindruck durch jahrelange Unterrichtstätigkeit schöpfen die wenigsten Teilnehmer von Lernprogrammen ihre Lernkapazitäten voll aus und viele Stunden mühevollen Lernens werden nicht effizient genutzt. Bei nicht wenigen Lernenden bestehen innere Lernhemmungen und Lernblockaden, die verhindern oder zumindest erschweren, daß optimale Lernfortschritte erzielt werden. Die Gedanken von manchen Teilnehmern kreisen während des Unterrichtes immer wieder um Themen, die mit dem eigentlichen Lernstoff wenig zu tun haben und die sie vom Lernen dieses angebotenen Stoffes abhalten. Mangelnde Fähigkeiten zur Konzentration über den Zeitraum einer Unterrichtseinheit läßt diese Teilnehmer abschweifen und wertvolle Zeit und Mühe geht verloren. Was geht in diesen Menschen vor? Was lenkt sie ab? Wie geht es ihnen? In welch innerer Spannung befinden sie sich? – Muß eine solch sicherlich auch für die Lernenden unbefriedigende Situation so bleiben oder kann sie nicht verändert werden?

Einengende Lernmuster können durch Arbeit mit dem natürlichen Atem aufgelöst werden.

Viele dieser unbewußt wirkenden Strukturen und Konzepte, die den Menschen einschränken und in seiner geistigen und seelischen Entfaltungs-, Lern- und Wachstumsfähigkeit sowohl behindern als auch oft blockieren, lassen sich über Atemarbeit als auch über andere therapeutische Methoden erkennen und durch stetiges Bemühen auflösen. Ein so reifender und lernender Mensch, der sich mehr und mehr innerlich von einengenden Konzepten und gewohnheitsmäßigen Einstellungen und Verhaltensmustern durch Atemarbeit und andere therapeutische Übungen befreit, erweitert sich dadurch selbst das Spektrum seiner inneren und äußeren Möglichkeiten. Einengende Lernmuster können losgelassen werden und der Lernende wird von seiner inneren Einstellung her fähig, Lernmethoden und Lerntechniken anzuwenden, die ihm zu einem früheren Zeitpunkt aus inneren – nämlich von seiner eigenen Sichtweise her – weniger aus äußeren Gründen verschlossen waren. Durch systematisches Anwenden von Lerntechniken und Lernoptimierungsstrategien können sicherlich dann weitere, positive Lernergebnisse in den unterschiedlichsten Interessengebieten wie z.B. dem einer Fremdsprache erzielt werden.

Sprache erlernen mit atemtherapeutischer Unterstützung.

Von diesen theoretischen Gedanken ausgehend stelle ich mir ihre praktische Umsetzung wie folgt vor: Einmal könnte ein/e Volkshochschulteilnehmer/in, der/die einen Sprachkurs besucht und an atemtherapeutischen Übungen interessiert ist, zusätzlich einmal in der Woche an einer Volkshochschule oder in einem anderen Rahmen einen Atemkurs besuchen, um auf diese Weise langsam in die Arbeit mit dem Erfahrbaren Atem hineinzuwachsen. Dieses Modell weist den Nachteil auf, daß Sprachelernen und Atemarbeit ziemlich unvermittelt nebeneinander bestehen und Interessierte für sich selbst eine Verbindung dieser beiden Interessengebiete herstellen müßten. Momentan ist aber diese Variante die einzig mögliche, die im Rahmen von VHS-Kursen praktisch umgesetzt werden kann.

Arbeit mit dem natürlichen Atem durch Körper- und Atemübungen einerseits und suggestopädischen Lernprogrammen andererseits können sich gegenseitig befruchten.

Zum anderen schwebt mir vor, daß langfristig z.B. von einem Bildungsträger Sprachkurs und Atemarbeit zusammen in einem Kurstyp angeboten werden könnten. Meines Erachtens nach paßt eine solche Verbindung hervorragend in suggestopädisch ausgerichtete Sprachunterrichtsprogramme, die unter dem Namen Superlearning eine gewisse Bekanntheit erfahren haben. Von der Suggestopädie, die zur Verstärkung der Lernfähigkeit positiv wirkende Vorstellungskräfte und Phantasiesuggestionen in den Unterrichtsprozeß eingliedert, würde ein Sprachunterricht mit atemtherapeutischen Körperübungen sicherlich profitieren. Atemarbeit und suggestopädischer Sprachunterricht könnten sich gegenseitig befruchten.

Rhythmischer Wechsel von Körper- und Atemübungen sowie konkreten, kognitiven Lernschritten beugt einer Verspannung und Überforderung der Lernenden vor.

Im konkreten Ablauf einer Lerneinheit sollte der Unterricht erst einmal mit einer Abfolge von Atemübungen beginnen, die ganz auf die momentane Befindlichkeit der Lernenden ausgerichtet sind. Vielleicht wirken in einem Abendsprachkurs die Teilnehmer/innen durch ihre Tagesarbeit ziemlich müde und abgespannt, so daß mit einer Serie von auffrischenden Atemübungen zuerst daran gearbeitet werden könnte, die abgespannten Lernenden in einen Zustand erneuter geistiger Aufnahmefähigkeit und innerer Offenheit für den Lehrstoff zu versetzen. Sollte im Laufe eines solchen Sprachunterrichtes die Konzentrationsfähigkeit der Teilnehmer wieder nachlassen, müssen erneut entsprechende Atem- und Körperübungen in den Ablauf des Unterrichtes eingeschoben werden. Durch den Wechsel von geistig konzentrativer Sprachlernarbeit und körperbezogener Atemarbeit würde der geistigen Verspannung und Überforderung der Lernenden erheblich vorgebeugt. Es liegt geradezu in der Natur einer solchen Arbeitsweise, daß im rhythmischen Wechsel von Anspannung und Entspannung neuer Lernstoff intellektuell und emotional in weit höherem Maße “verdaut” werden kann als das mit bisherigen Unterrichtsmethoden der Fall ist.

Ein gelassene Atemweise fördert in natürlicher Weise eine andere Lern- und Lebensweise.

Generell würde im Rahmen eines solchen atemtherapeutisch orientierten Sprachunterrichtes über Atemübungen, bei denen die übenden auf Hockern sitzen, an der Entwicklung einer zugelassenen Atemweise gearbeitet werden. So würde zunächst über Dehnungs- und Druckpunktübungen sowie mit Hilfe der Vokalatemarbeit Empfindungs- und Sammlungsbewußtsein entwickelt werden, damit überhaupt von den Teilnehmern das Fließen des Atems im Körper wahrgenommen werden kann. Es würden weiter Atemräume langsam aufgebaut, Atemzentren geschaffen, am Spannungsatem gearbeitet, sowie Höhlen- und Richtungsatem entwickelt werden. Nach und nach würden die Teilnehmer lernen, Bewegungen aus dem Atem entstehen zu lassen. Je mehr die verschiedenen atemübenden Menschen Wandlungsprozesse von einer gehaltenen und geführten Atemweise zu einer gelasseneren Atemweise selbst erfahren und erleben würden, um so freier und gelöster könnten sich diese lernenden Personen auf Bemühungen zum Erwerben einer neuen Sprache einlassen.

Sprachunterricht wird zum Mittel, sich selbst in ganzheitlicher Weise als menschliches Wesen auszudrücken.

Zur Durchführung von Atemübungen wird natürlich unumgänglich die Benutzung der Sprache gebraucht: von Seiten des Lehrenden, um Anweisungen, Hilfestellungen und Korrekturen zu geben als auch von den Lernenden, um nachzufragen und gemachte Erfahrungen und Erlebnisse mitzuteilen. Damit ist der Atemunterricht nicht ein abgetrennter Teil des Sprachunterrichtes, sondern per se selbst kommunikativer Sprachunterricht. Die Lernenden lernen, sich selbst als ganzheitliche, menschliche Individuen auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene in einer für sie neuen Sprache zu artikulieren und lebendig auszudrücken. Ein derart ausgerichteter Sprachunterricht kann zum Medium werden, durch das ein bewußt atmender und lernender Mensch sich in ganz neuer und ungewohnter Weise erfährt.

Atemtherapeutische Körperarbeit, die schöpferisch und kreativ in Lernprozesse integriert wird, zeigt einen Weg in Richtung der Offenheit und Weite des Geistes.

Während in Europa und Amerika das Gehirn als Sitz geistiger Tätigkeit angesehen wird, siedeln die Menschen in China und Asien die Gedankentätigkeit im Herzen an. Ungeachtet dessen, was wirklich zutrifft, müssen wir uns in unserer modernen Zeit von Vorstellungen verabschieden, die behaupten, daß Lernen als geistige Tätigkeit nur im Gehirn stattfindet, so daß in Folge hauptsächlich nur kognitive und rationale Methoden in der Unterrichtspraxis zur Anwendung kommen. Richtig ist zwar, daß im Gehirn Energien gebündelt und zentralisiert werden; sollen sie aber in optimaler Weise gerichtet werden, müssen sie im ganzen Körper fließen können. Der menschliche Geist an sich ist nicht auf Gehirn, Herz oder auch auf den Körper beschränkt. Das, was wir als Geist bezeichnen, ist so offen und unbeschränkt weit wie der Kosmos. Je offener Lernende in sich für diese unendliche Weite des Geistes sind, um so leichter und freier lernen sie. Atemtherapeutische Körperarbeit, die vielleicht in der Zukunft schöpferisch und kreativ in den Sprachunterricht und andere Lernprozesse integriert werden könnte, zeigt einen Weg in Richtung dieser Offenheit und Weite des Geistes.

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